Clan-Kriminalität – jetzt auch im Aargauer Bünztal?

Die Schweiz will keine Verhältnisse wie in Deutschland, wo kriminelle Grossfamilien den Rechtsstaat an den Anschlag bringen. Wie sie dem vorbeugt, zeigt sich bei einem Spezialeinsatz der Kripo Aargau.

Irène Troxler (Text), Maurice Haas (Bilder), Wohlen 5 min
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Die Kripo Aargau kontrolliert stichprobenartig Gewerbe, darunter auch Spielsalons.

Der Mann im Barbershop ist sichtlich überrumpelt. Acht Zivilpolizisten stehen in seinem Laden im aargauischen Wohlen und wollen die Ausweise aller anwesenden Personen sehen. Ob er der Geschäftsführer sei, fragt der Einsatzleiter Rudolf Bärtschi. «Nur der Personalchef», antwortet der Mann. Aus einem Lautsprecher tönt orientalische Musik. Zwei Männer lassen sich in goldverzierten Coiffeurstühlen die Haare schneiden und den Bart stutzen. Von der Decke baumelt ein Kronleuchter.

«Risikobasierte Stichprobenkontrollen» finden an diesem Tag an mehreren Orten im Aargau statt. So nennt es die Kantonspolizei, wenn sie kleine Betriebe überprüft, bei denen sie erfahrungsgemäss auf illegale Praktiken stösst. Ein Team ist im Dorf Wohlen unterwegs, ein anderes im Norden des Kantons.

Inflation der Barbiere

Der Personalchef des Barbershops hat seine Irritation überwunden. Auf Kurdisch gibt er dem Personal Anweisungen. Den Polizistinnen und Polizisten bietet er lächelnd Wasser an. Doch als eine Polizistin eine Familie am Betreten seines Geschäfts hindert, wird er laut. Das dürfe die Polizei nicht, das seien Kunden, ruft er aus und eilt zur Tür. Der Einsatzleiter Bärtschi legt ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und erklärt, die Leute müssten warten, bis die Kontrolle vorbei sei. Das scheint zu wirken. Bald fragt der Mann wieder, wer einen Becher Wasser möchte.

Die Polizei will wissen, wer das Geschäft führt, und prüft später, ob es Verbindungen gibt in die Geldspielszene oder ins Rotlichtmilieu. Verdacht schöpfe man, wenn bei einem Geschäft der Besitzer häufig wechsle, sagt der Leiter des Teams Spezialgewerbe, der beim Einsatz mit dabei ist. Nennen wir ihn hier Tim Minder. Sein richtiger Name darf nicht bekanntwerden, denn er ermittelt auch verdeckt. «Verdächtig ist auch, wenn gleichartige Geschäfte wie Pilze aus dem Boden schiessen und es so aussieht, als ob sich Menschen eines bestimmten Milieus dort zu einem anderen Zweck treffen würden», sagt Minder. Bei manchen Barbershops sei das der Fall.

Posieren mit Tiger

Das grosse Thema, um das es bei solchen Spezialeinsätzen geht, heisst Clan-Kriminalität. In deutschen Städten hat die Polizei das Thema verschlafen, mit dem Resultat, dass Grossfamilien in Berlin und in Städten des Ruhrgebiets regelrechte Parallelgesellschaften aufgebaut haben, die nach ihren eigenen Regeln funktionieren. Die Liste der Verbrechen ist lang. Raub, Bedrohung oder Körperverletzung, aber auch Vermögensdelikte, Drogenhandel und illegales Glücksspiel stehen darauf. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass gewisse Clans den deutschen Behörden auf der Nase herumtanzen. Ende 2022 stoppte der arabischstämmige Remmo-Clan gemäss Medienberichten in Berlin für eine Hochzeit kurzerhand den Verkehr, ohne dass jemand eingriff. Auf Instagram posierten Familienmitglieder mit einem Tiger.

Aber ist es in der Schweiz auch schon so weit? Sogar in Wohlen im ländlichen Bünztal? «Clan-Kriminalität gibt es in der Schweiz im Kleinen», sagt Markus Gisin, der Chef der Aargauer Kriminalpolizei. Das bedeute, dass Personen, die verwandt seien oder der gleichen Ethnie angehörten, in diverse illegale Aktivitäten verwickelt seien. Oft bilde dies die Basis für schwere Delikte wie Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel. Strafverfahren im Zusammenhang mit Covid-19-Krediten hätten gezeigt, dass manche Täter sehr gut vernetzt seien und regelmässig in verschiedenen Kriminalitätsfeldern tätig seien, sagt Gisin. Konkret gehe es um Drogenhandel, IV-Betrüge, Menschenhandel oder Konkursreiterei.

Im Juli hat die Polizei bei einem Barbier im aargauischen Strengelbach Sprengstoff gefunden. Das Dorf in der Nähe von Zofingen hat knapp 5000 Einwohner. Laut Medienberichten sollen die Täter Bancomat-Sprengungen geplant haben. Die Bundesanwaltschaft hat ein Verfahren eröffnet.

Kleine Vergehen

Beim Barbier von Wohlen fragt die Polizei die Angestellten: «Wie viel arbeiten Sie?» Und: «Haben Sie einen regulären Vertrag oder einen Praktikumsvertrag?» Online kontrollieren die Beamten die Arbeitsgenehmigungen. Auch die angebotene Ware wird überprüft. Ein «Mystery-Spray» ohne Etikette weckt den Argwohn des Einsatzleiters Bärtschi. «Was ist das»?, fragt er. Das sei zum Desinfizieren der Hände, erklärt der Personalchef. Die Polizei packt den Spray und ein paar andere Produkte ein. Inhaltsstoffe nicht auf der Packung zu deklarieren, verstösst gegen den Verbraucherschutz. Der Personalchef muss angeben, wo er die Sachen herhat.

Der bekannteste kriminelle Clan, die italienische Mafia, ist erwiesenermassen im Aargau aktiv. 2020 wurden bei einem koordinierten Schlag 75 Personen in Italien verhaftet und eine im Aargau. Es handelte sich um den Wirt einer Pizzeria in Muri, der dem kalabrischen Mafia-Zweig, der ’Ndrangheta angehört haben soll.

Auch Mitglieder von deutschen Clans wurden bereits in der Schweiz gesichtet, so Angehörige des erwähnten Remmo-Clans, dem unter anderem ein spektakulärer Juwelenraub zugeschrieben wird, oder des Abou-Chaker-Clans, der seine Wurzeln in Palästina hat. Delikte dieser Clanmitglieder sind aber in der Schweiz nicht aktenkundig.

Nach einem Spielsalon und zwei weiteren Barbershops kontrolliert die Aargauer Polizei ein Nagelstudio. Die albanischstämmige Besitzerin hat zehn Zertifikate aufgereiht: «Fingernagelmodellagen», «Gellack», «Wimpernverlängerungen» oder «Gesichtsbehandlung» steht darauf. «Hier scheint alles in Ordnung zu sein», sagt der Polizist Bärtschi nach einer Weile.

Auf der Liste stehen heute vor allem Betriebe des migrantischen Milieus. Ist das nun Racial Profiling? Der Spezialermittler Minder verneint. Auch Schweizer Geschäftsinhaber würden kontrolliert, wenn etwas auffällig sei. Man ermittle einfach dort, wo erfahrungsgemäss das Risiko von illegalen Aktivitäten hoch sei.

Für eine Shisha-Bar, die auch noch auf der Liste stand, bleibt diesmal keine Zeit. Auch diese Lokale hat die Aargauer Polizei im Auge. In Oftringen hat sie kürzlich in einer Shisha-Bar Schmuggelware gefunden: 15 Kilogramm unverzollter und unversteuerter Tabak. Andernorts war der Nikotingehalt der angebotenen Substanzen für E-Zigaretten zu hoch.

Die Bilanz dieses Nachmittags ist unspektakulär: Das Team Wohlen zieht sechs Produkte aus dem Verkehr, weil die Inhaltsstoffe nicht vorschriftsgemäss deklariert sind. Die Kollegen im Norden sind auf einen Angestellten gestossen, der keine Arbeitserlaubnis hat. Diesmal wären nicht so viele Polizistinnen und Polizisten nötig gewesen. «Aber man weiss nie im Voraus, wann eine Situation eskaliert», sagt Tim Minder.

Barbiergeschäfte schiessen mancherorts wie Pilze aus dem Boden und verkaufen nicht zugelassene Produkte.

Polizeipräsenz wirkt abschreckend

Die Kontrollen hätten auch einen präventiven Effekt, erklärt der Ermittler. «Uns ist es recht, wenn sich das herumspricht.» Parallelgesellschaften entstünden gern in der Anonymität, an Orten, an denen eine Grossfamilie oder eine ethnische Gruppe unter sich sei. Polizeikontrollen seien hilfreich, um Clan-Kriminalität gar nicht aufkommen zu lassen.

Manchmal stösst die Kantonspolizei Aargau auf schwere Delikte. Zurzeit führt sie ein Schwerpunktverfahren gegen eine organisierte Gruppierung, die vor allem im Drogenhandel aktiv ist. Dazu kommen vier Verfahren im Bereich Menschenhandel sowie ein umfangreiches auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität.

Der Betreiber des Barbershops mit dem konfiszierten «Mystery-Spray» muss sich am nächsten Tag auf dem Polizeiposten melden. Er wird eine Busse bekommen. Die Polizei wird wissen, wer er ist. Und noch wichtiger: Er wird wissen, dass sie ihn kennt.